Eine Antwort, wo ich im September mein Kreuz machen werde habe ich damit jedoch weiterhin nicht – und fühle mich heute eher noch ratloser als am Anfang dieses Experiments.
Was habe ich gelernt?
Positive Geschichten scheinen out zu sein. Die Unkultur der letzten Jahre/Jahrzehnte, immer nur davon zu reden, was alle anderen falsch machen strebt offensichtlich ihrem Höhepunkt entgegen. Eine Erzählung, die einlädt, mitzumachen und gleichzeitig der komplexen Realität heutiger Gesellschaft gerecht wird fehlt mir jedenfalls derzeit komplett.
Präzise Antworten und echte Konzepte statt platter Slogans waren immer schon schwer zu finden – mittlerweile haben sich Parteien scheinbar komplett von dieser Idee verabschiedet. Beispiel gefällig: Auf eine sehr direkte Anfrage, zur Zukunft der Arbeitswelt in einer fortgeschritten digitalisierten Welt gibt es entweder weichgespülte, unverbindliche Allgemeinplätze im besten Marketingsprech (Grüne), Antworten die an der eigentlichen Frage glatt vorbeischiessen (SPD) oder einfach nen Verweis an eine Fach-AG, die mensch ja mal fragen könnte (Linke). Dazu inhaltsleere Parolen von „Linke“ bis FDP oder gleich Plakate ganz ohne Inhalt (CDU).
Soweit, so wenig überraschend. Diese Tendenzen gibt es seit langer Zeit. Gefördert von einer Presse, die weder Lust noch Kapazitäten hat, mal etwas tiefer zu graben. Und von einem Wahlvolk, dass gern viel meckert – sich gleichzeitig in der Rolle des Publikums gefällt und dem jede tiefergehende Beschäftigung mit Themen zuwider ist, die über den 10-Sekunden-Soundbyte hinausgeht.
Bringt mich zur der Einsicht, die das Experiment konterkariert: Wo Inhalte fehlen bleiben nur noch die handelnden Personen und deren tatsächliche Aktionen (oder das Fehlen selbiger) – und damit ein bunter Blumenstrauß politischer Einzelpositionen aus dem sich Mensch das eigene Bild zusammensetzen darf und die Gesamtbewertung fast schon dem Zufall überlassen wird.
Aus dem Kundenmanagement kommend weiß ich, wie wichtig für nachhaltig funktionierende Beziehungen inhaltliche, personelle und zeitliche Konsistenz des Auftretens sind: das Einhalten von Versprechen; Produkte, die der Verpackung entsprechen; ehrliche und aktive Bereitschaft, Dinge in Ordnung zu bringen, wenn etwas nicht funktioniert.
Was soll ich damit anfangen, wenn die relevante Spitzenkandidatin der Linken permanent mit Äußerungen und Zuspitzungen auffällt, die laut anderer verantwortlicher Parteimitglieder nicht vom vereinbarten Programm gedeckt sind – ohne Konsequenz in irgendeiner Hinsicht?
Was soll ich damit anfangen, dass eine Partei deren einer wesentlicher Markenkern die Bürgerrechte sind vor, während und nach G20 in Hamburg einfach sprachlos bleibt; es keine klaren, abgestimmten Bewertungen gibt, sondern nur viele Einzelmeinungen – und die meisten davon schon triefend in ihrer staatstragenden Ausgewogenheit und dem Lob für Staatsorgane, die aus meiner Sicht jedes Maß an Verhältnismäßigkeit verloren haben?
Was soll ich damit anfangen, wenn die andere Bürgerrechtspartei bei gleichem Anlass komplett jede Form von Rechtsstaatlichkeit vermissen lässt und sich mit Ihren Forderungen nach Schnellgerichten und drakonischsten Strafen brav einreiht bei den Rechtspopulisten von CDU, AfD und Co?
Was soll ich anfangen mit einer Partei, die seit der Krönung des Spitzenkandidaten alles auf diesen ausrichtet (wenigstens konsistent), dann aber gefühlt jede Woche ein neues Pferd durchs Dorf treibt und mensch irgendwann schon gar nicht mehr weiß, was genau jetzt die zentralen Forderungen und Vorschläge sind.
Bei all dieser Inkonsistenz und gefühlten Inhaltsleere wird dann selbst ein privater Umzug in ein anderes Wahlgebiet zum Faktor. In Berlin wüsste ich genau, wo ich mein Kreuz machen soll – zumindest auf Landesebene. Die Linkspartei macht ehrliche Politik, hat die Zeichen der Zeit erkannt und sich (im Wesentlichen) von altgeglaubten Wahrheiten verabschiedet und geht auch offen und transparent mit eigenen Fehlern der Vergangenheit um. Schon für die Bundestagswahl wäre es hier schwieriger geworden – im Zweifel hätte ich mich damit zufriedengegeben, einen Beitrag zu leisten, dass in der Linksfraktion nicht nur „National“Linke, Populisten und Putinfreunde sitzen.
In meiner neuen Wahlheimat – Niedersachsen – fällt die Option Linkspartei im Grunde komplett aus. Querfrontvertreter als Spitzenkandidaten reichen mir allein schon, dass dort mein Kreuz ausgeschlossen ist.
Ich bin ratlos. Ich wünsche mir eine progressive, linke Option für das 21. Jahrhundert, die ich so aktuell in keiner Partei wiederfinde. Ich suche ehrliche Antworten auf drängende Fragen wie Klimawandel, digitale Transformation, Migration und eskalierende Konflikte in weiten Teilen der Welt. Konstruktive Vorschläge statt „Wir wussten es immer schon und alle anderen sind Schuld – und ganz besonders die SPD!“
Vielleicht ist es wirklich Zeit für ein neues Projekt. Für eine lebensbejahende linke Kraft, für die Frieden und Überwindung nationaler Grenzen einhergehen, die Gerechtigkeit über deutsche und europäische Grenzen hinausdenken kann, für die Lösung der sozialen Frage, technischer Fortschritt, kulturelle Teilhabe, freie Entfaltung individueller Persönlichkeiten und ökologische Erneuerung gleichermaßen Teil einer ganzheitlichen, nachhaltigen Vision sind.
Es sind ja noch ein paar Wochen bis zur Wahl. Also weiter beobachten, zuhören, bewerten und abwägen… Und mal schauen, was zwischendurch noch passiert…
Die Parteien laufen sich warm für die Bundestagswahl am 24.9.2017. Zeit also, sich ein eigenes Bild zu machen! In dieser Serie beschäftige ich mich mit einzelnen Themen, Personen und anderen Faktoren, die für meine Entscheidung in Summe wichtig sind und bewerte jeweils die Parteien nach ihrer Performanz – ganz subjektiv entsprechend meiner persönlichen Wahrnehmung.
Ich lade Euch ein, mich auf meiner eigenen Suche nach der richtigen Wahlentscheidung zu begleiten und freue mich auf einen regen Austausch. Die komplette Serie findet Ihr hier.
Hi,
interessanter Artikel – ich kann aber einem Aspekt nicht zustimmen.
Es gibt Parteien mit positivem Narrativ, u.a. die Grünen.
Wir wollen die gesellschaft ökologisch, sozial und wirtschaftlich transformieren und für die Zukunft fit machen.
Klicke, um auf BUENDNIS_90_DIE_GRUENEN_Bundestagswahlprogramm_2017_barrierefrei.pdf zuzugreifen
Was ist daran nicht positiv?
Jens