Koalitionen sind Zweckgemeinschaften, keine Liebesheirat!

Für die Demokratie ist wichtig, darüber zu reden WIE mögliche Mehrheitsfindungen und Regierungshandeln gestaltet werden können, nicht OB. Eine Binsenweisheit – und doch scheinbar leicht zu vergessen, wenn mensch die aktuellen Diskussionen nach der Bundestagswahl so verfolgt. 

Generelle Koalitionsfähigkeit definiert die Qualität einer Demokratie

In der Politikwissenschaft gibt es u.a. Indizes für die Qualität einer Demokratie und ein wichtiges Kriterium dabei ist die Koalitionsfähigkeit der im Parlament vertretenen Parteien. In kurz: Höchste Punktzahl gibt es, wenn grundsätzlich alle Parteien mit allen koalieren können.
Klingt nach Beliebigkeit, folgt jedoch einer simplen Logik: In einer funktionierenden Demokratie vertritt jede gewählte Partei, jede/r gewählte/r Abgeordnete/r zuallererst spezifische Interessen derer, die sie gewählt haben. Viele direkt gewählte Abgeordnete „gewinnen“ Ihren Wahlkreis mit gerade mal 30-40% und auch insgesamt kommt keine einzelne Partei noch über 30% der Stimmen. Daraus Alleinvertretungsansprüche für die „Allgemeinheit“ in einer Gesellschaft mit weit ausdifferenzierten Werte- und Präferenzsystemen abzuleiten wäre grundfalsch.

Der vielbeschworene „Allgemeinwille“ des „Volkes“ entsteht erst durch Aushandeln, Überzeugen, Mehrheiten finden – das nennt sich dann Demokratie! Keine 10% und auch keine 30%-Partei kann für sich allein in Anspruch nehmen, auf alle Fragen der Zeit die einzig richtigen Antworten zu haben – und selbst eine 50+%-Partei (ja, die gab‘s mal… damals… kurz nach den Dinosauriern) sollte immer bereit sein, eigene Positionen regelmäßig zu validieren.

Wahlen sind Gradmesser aktueller Präferenzen

Wenn diese Logik gilt, sind Wahlen nicht anderes als ein Gradmesser der wesentlichen Präferenzen in der Wählerschaft. Welche Themen sind wie wichtig, welche Probleme sollten priorisiert werden und vor allem: Welche Konzepte, Ideen und auch Personen werden am Ehesten als mit der eigenen Meinung übereinstimmend wahrgenommen. Wenn also eine Partei 10% der Stimmen erhält, unterstützen 10% der WählerInnen die Positionen dieser Partei am Meisten – aus welcher Motivation heraus auch immer. Nicht mehr und nicht weniger. Daraus nun Ansprüche zu entwickeln, „wie viel eigene Inhalte“ am Ende umgesetzt werden müssen, ist eher merkwürdig.

Demokratie bedeutet Mehrheiten für die eigenen Positionen finden

Dazu muss jede Partei erstmal welche haben – heute auch keine Selbstverständlichkeit mehr – und diese dann vertreten. Im perfekten Modell wird dann Thema für Thema geschaut, welche Position mehrheitsfähig ist und diese dann in Regierungshandeln übersetzt. Wechselnde Mehrheiten im Parlament wären dafür der Ausdruck – gern in Kombination mit Minderheitsregierung. Skandinavien hat da eine lange Geschichte, unterstützt von einem eher konsensorientierten Demokratieverständnis der Gesellschaft.

Koalitionen sind (notwendige) Realität im politischen Geschäft

Realität in parlamentarischen Demokratien wie Deutschland ist die Koalition als gemeinsame Vereinbarung politischen Handelns und Begründung einer mehrheitsfähigen Regierung. In der Logik werden dann die getroffenen Versprechen (Koalitionsvertrag) einfach abgearbeitet und gut ist. Problem: Das allgemeine Verständnis der meisten politisch Agierenden, wie „Kompromisse“ zustande kommen – Maximalpositionen vertreten um am Ende genug durchzukriegen, egal wie sinnvoll diese Maximalpositionen sind; sich „irgendwo in der Mitte“ treffen, egal wie unpraktikabel diese Scheinlösungen wirklich sind und vor allem die andere Seite öffentlich niederringen um sich am Ende der eigenen Wählerschaft als Sieger präsentieren zu können. Aber Demokratie sollte nicht als Boxkampf verstanden werden. Jeder geübte Profi weiß, Verhandlungen sind dann besonders erfolgreich, wenn alle Seiten gleichermaßen gewinnen UND dabei sinnvolle, nachhaltig umsetzbare Vereinbarungen herauskommen. Demut, Respekt und Wertschätzung sind da wichtige Begriffe.

Die von mir sehr geschätzte Ex-MdB Halina Wawzyniak hat sich in Ihrem Blog mehrfach und sehr ausführlich damit auseinandergesetzt, wie Alternativen zur aktuellen deutschen Koalitionslogik aussehen könnten.

Demokratie braucht starke Opposition

Wer Koalition sagt, muss in einer funktionierenden Demokratie aber immer auch Opposition denken. Ohne starke, im Grundsatz auch durchsetzungsfähige Opposition gibt es keine echte Demokratie – ein weiterer Messindex zur Qualität von demokratischen Systemen. Die Funktion als parlamentarischer Kontrollinstanz ist genauso wichtig wie als Entwickler, alternativer Konzepte und Lösungsansätze für einen echten Diskurs im Parlament.
Was nicht dazu gehört und doch leider viel zu viel Raum einnimmt ist grundsätzliche Pauschalkritik von einfach allem, was „die Anderen“ machen – einfach Meckern mag leicht sein und kann mensch vielleicht kurzfristig auch Punkte machen – mit Gestalten hat es absolut nix zu tun und trägt zum steigenden Politikfrust in der Bevölkerung nur bei.

Theorie trifft Realität: Übrig ist Jamaika

Nun stehen wir aktuell vor dem Ergebnis der Bundestagswahl und geblieben sind real noch zwei Optionen, die eigentlich niemand wirklich wollte: CDU-SPD & CDU-FDP-GRÜNE. Spiegel Online hat wunderbar aufbereitet, welche verschiedene Optionen überhaupt noch in Bund und Ländern bestehen, und wie bunt der Mix dabei ist. Ich sag es ganz offen: Ich bin ein großer Fan von Rot-Rot-Grün. Aber dafür braucht es Mehrheiten, die aktuell gerademal noch in drei Stadtstaaten überhaupt nur theoretisch möglich sind.
Dass die SPD sich sofort gegen eine weitere GroKo entschieden hat, verstehe ich und kann es auch nur begrüßen – auch wenn es aus demokratietheoretischer Perspektive problematisch ist. Wenn jetzt keine echte Erneuerung (inhaltlich wie personell) kommt ist diese Partei wohl bald final von niemandem mehr wählbar.
Bleibt Jamaika – der Inbegriff einer Zweckgemeinschaft, wenn es dazu kommt. Und vielleicht ist trotzdem genau diese Option das Beste, was uns gerade passieren kann. Wenn gelingt was unwahrscheinlich erscheint und dennoch nicht unmöglich ist: Konzentration auf gemeinsam umsetzbare Themen, Suchen nach dem größtmöglichen gemeinsamen Nenner und akzeptieren, dass es gleichzeitig viele Themen geben wird, wo Positionen diametral zueinanderstehen und Kompromisse objektiv nicht möglich sind.

Wenig überraschend aber genau deshalb auch so falsch ist die erwartbare Haltung der Linken: Bevor nur ein einziges Gespräch geführt wurde, bevor irgendeine Vereinbarung getroffen wurde und insbesondere bevor irgendetwas getan werden konnte, wofür Kritik vielleicht angemessen wäre wird den Grünen schon Verrat und Umfalleritis vorgeworfen. Das – finde ich – ist mindestens genauso antidemokratisch wie die generelle Verweigerung jeglicher eigenen Verantwortungsübernahme.

Demokratie heißt Mitmachen!

Wer verändern will muss dafür mitmachen, Vorschläge entwickeln und für diese dann auch kämpfen. Im demokratischen System, in dem wir leben, heißt das Mehrheiten suchen und finden. Jetzt aber schon an die nächste Wahl zu denken wird der Herausforderung nicht gerecht. Auf Neuwahlen förmlich zu warten treibt uns in eine Spirale, die immer nur die Rechten stärken wird. Wer nur irgendetwas aus der Geschichte gelernt hat weiß, dass es jetzt darauf ankommt zu beweisen, dass die Demokratie auch in schwierigen Situation funktioniert und keine Schönwetterveranstaltung ist. Das schließt konstruktive Kritik, lebhafte inhaltliche Auseinandersetzung, Streit über Konzepte und Ideen ausdrücklich mit ein – wenn sie dazu dienen, dass am Ende etwas Besseres steht als vorher.

Autor: tomatenfisch

If I can´t dance to it, it´s not my revolution. emotionale Dampfwalze eitle Rampensau immerwaehrender Besserwisser und trotzdem gibt es Leute die mich moegen. Verrückt. :-) Fav's: Stockholm; Punk; IndieRock; Dancing; Parties; Running; Vodka; NewEngland; RedSox; Tea; JellyBeans; Books; Movies; RadioEins and about thousand other things that make life worth living every single day...

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