Mehr Europa! Jetzt!

Die Krise wurde erstmal wieder abgesagt und die Politik ist zurück auf dem Weg zum üblichen europapolitischen Mehltau. Dabei gibt es so viele Herausforderungen, die endlich angegangen werden müssen. Statt einem Zurück in die Kleinstaaterei braucht es dafür eine starke, handlungsfähige Union. Zeit, dass sich wieder was zum Guten bewegt in Europa.

Es ist – so scheint es – wieder ruhiger geworden um Europa. Die Brexit-Verhandlungen wabern still vor sich hin. Weitere Austrittskandidaten sind aktuell nicht in Sicht. Der fast schon sicher geglaubte Eurozusammenbruch wurde erst einmal wieder abgesagt. Eurokritische, nationalistische Gruppierungen haben in diversen Länderwahlen zuletzt eher verloren als gewonnen. Eine Europa-positive Bewegung macht unterdessen aktiv weiter. Und jetzt wird sogar wieder ernsthaft über Erweiterung von Beitrittsverhandlungen diskutiert.

Krise überstanden? Wohl nicht!

Die strukturellen Herausforderungen sind nicht verschwunden und echte Lösungen zurzeit eher schwieriger umsetzbar – gerade, weil die Krisen ja aktuell abgemildert scheinen und damit das Auge Saurons – der rein reaktiv agierenden Politik – woanders unterwegs ist. Eine echte Bankenunion ist weiterhin nicht in Sicht, die noch viel dringendere Sozialunion erst recht nicht. Von dem einst diskutierten und mit großen Versprechen angekündigten europäischen Infrastrukturpaket ist am Ende fast nichts übriggeblieben. Über die notwendigen Reformen der Agrar- und Regionalförderung wird viel geredet ohne das wirklich etwas passiert. Und an den großen Herausforderungen der Zeit versucht sich jeder Kleinstaat doch wieder selbst als könnte heute wirklich noch irgendetwas im Nationalstaat gelöst werden.

Am dramatischsten erscheint mir jedoch, dass die europäische Idee Stück für Stück von innen ausgehöhlt wird: Insbesondere, aber nicht nur, osteuropäische Mitgliedsländer betrachten die EU nur als willfährigen Finanziers von teilweise fragwürdigen Infrastrukturprojekten im eigenen kleinen Reich. Demokratieprinzip und Menschenrechte interessieren jedoch wenig bis gar nicht und die Orbans, Morawieckis usw. können sich darauf verlassen, dass außer gespielter Entrüstung in Brüssel keine echten Konsequenzen zu erwarten sind.

Zurück zum üblichen europapolitischen Mehltau?

Umso trauriger, dass die nächstes Jahr wieder anstehenden Wahlen zum Europaparlament bisher so wenig Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte bekommen. Schade, dass die Idee der transnationalen Listen wohl einfach ausgesessen wird. Fatal, wieviel Zeit verloren wurde, weil in Deutschland erst eine neue Regierung zustande kommen musste und der Rest von Europa abzuwarten hatte bis die Groko endlich wieder in den „Weitermachen“-Modus zurückfand. Macron’s Initiative zur Weiterentwicklung der Union wurde erst geparkt und wird jetzt absehbar weggedrückt – die bisherigen Verlautbarungen zum angekündigten gemeinsamen Vorschlag im Juni lassen wenig Fortschritt und viele Minimalkompromisschen befürchten. Echte Lösungen für real existierende Herausforderungen werden auf die lange Bank geschoben und damit das Friedensprojekt Europäische Einigung in seinem Kern zur Disposition gestellt.

Erweiterung gegen Vertiefung

Vieles geht dabei auf eine alte Frage zurück, die aus meiner Sicht in den 90ern kurzsichtig beantwortet wurde: Was muss zuerst kommen, Vertiefung oder Erweiterung? Damals wie heute ist die Versuchung zu groß, weitere Kandidaten schnell aufzunehmen. Insbesondere wenn nicht gar ausschließlich strategische und wirtschaftliche Erwägungen sprechen dafür: Aufnehmen, bevor sie sich doch lieber woanders (aka nach Russland) hin ausrichten. Da wird im Zweifel schonmal ein Auge zugedrückt, wenn es um die Erfüllung definierter Voraussetzungen geht. Statt das bestehende Haus erstmal in Ordnung zu bringen, dringend notwendige Reformen voranzubringen werden wieder einfach neue Zimmer angebaut – immer in der Hoffnung, das bringe den nötigen Impuls für fällige Renovierungen an anderer Stelle. Bisher hat sich diese Hoffnung nicht wirklich erfüllt, sondern sind die nötigen Veränderungen einfach nur immer schwieriger und damit unwahrscheinlicher geworden.

Europa ist die Antwort auf die Fragen unserer Zeit

Der Stillstand ist fatal – innerhalb der Wohngemeinschaft aber mindestens genauso auch in der Außenwirkung. Wir leben in einer Welt sich wieder zuspitzender Polarisierungen zwischen alten und neuen „Weltmächten“, anhaltender militärischer und paramilitärischer Konflikte in weiten Teilen der Welt, zunehmender Handels- und Wirtschaftskonflikte. Wir leben in einer Zeit, in der die Folgen des Klimawandels immer realer erlebbar werden und die Chance noch wirkungsvoller gegenzusteuern immer weiter gegen null geht. Wir leben in einer Zeit, in der weiter zunehmende Verteilungskämpfe in unterschiedlichster Form zu immer neuen Migrationswellen führen. Für all das bräuchte es eine starke Stimme der Vernunft – eine Rolle, die die EU in der Vergangenheit bereits erfolgreich eingenommen hatte. Dafür braucht es aber Einigkeit, Legitimität und auch Relevanz um ernstgenommen zu werden.

Wichtige Maßnahmen jetzt angehen

Es ist Zeit, dass die Demokratisierung der europäischen Institutionen abgeschlossen wird. Es wird Zeit, dass die Abhängigkeit europäischer Politik von nationalen Egoismen beendet wird. Es wird Zeit, dass die Wirtschaftsunion mit einer echten Sozialunion einhergeht und überall in der EU gleiche Mindeststandards für ein selbstbestimmtes Leben geschaffen werden. Es wird Zeit, dass Ressourcen- und Investitionssteuerung europäisch koordiniert werden um absurde Bietergefechte innerhalb der Union zu unterbinden. Und es wird auch Zeit, dass Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik konsequent auf die europäische Ebene übergehen. Vor allem und am Wichtigsten: Es wird Zeit, das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Wertekultur nicht nur zu propagieren, sondern aktiv weiterzuentwickeln.

Zeit für eine echte europäische Staatsbürgerschaft

Ich denke, es ist Zeit, das Thema Europäische Verfassung wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Hier sehe ich die Chance, die Frage Erweiterung oder Vertiefung positiv aufzulösen indem die Reihenfolge stimmt: Eine gemeinsame Verfassungsdiskussion an deren Ende dann per Opt-In „beigetreten“ werden kann. Statt wie beim ersten Anlauf eine reine Elitendiskussion zu führen, sollte dieses Mal von Anfang an direkt mit Bürgern, mit relevanten Organisationen, NGOs etc., und damit über die politischen Gremien hinaus diskutiert werden. Staaten – oder alternativ gern auch Regionen – die der Verfassung mehrheitlich zustimmen sind dann auch drin. Wer sich mit den vereinbarten Werten, Regeln und auch Pflichten nicht einverstanden erklären möchte, ist halt draußen.

Ich möchte gern Bürger der Europäischen Union sein, einen europäischen Pass bekommen, europäische Steuern bezahlen, europäische Parteien und eine echte europäische Regierung wählen. Ich möchte wissen, dass ich überall in der EU nicht nur uneingeschränkt leben und arbeiten kann, sondern auch überall gleichermaßen sozial abgesichert bin.

Aktuell, so scheint es, ist die weitere europäische Einigung kein besonders sexy Thema für die handelnde Politik. Ich habe aber eine Politik satt, die alles schlechtredet, immer nur Probleme zu sucht und natürlich auch findet und pauschal Angst macht. Ich denke, es ist Zeit, das zu ändern und wieder eine positive Geschichte zu erzählen, die Menschen begeistert und Bereitschaft zur Veränderung fördert statt. Das Gute: Es gibt ein Vielzahl von Möglichkeiten, sich klar pro-europäisch zu betätigen und an dieser positiven Geschichte mitzuarbeiten: Schüleraustausche, Pulse of Europe, Europa-Union, Parteien, die Europa aktiv gestalten wollen – die Liste lässt sich ewig fortführen. Also: Mitmachen, einbringen, gestalten. Zeit, dass sich wieder was zum Guten bewegt in Europa.

Autor: tomatenfisch

If I can´t dance to it, it´s not my revolution. emotionale Dampfwalze eitle Rampensau immerwaehrender Besserwisser und trotzdem gibt es Leute die mich moegen. Verrückt. :-) Fav's: Stockholm; Punk; IndieRock; Dancing; Parties; Running; Vodka; NewEngland; RedSox; Tea; JellyBeans; Books; Movies; RadioEins and about thousand other things that make life worth living every single day...

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