Vor vielen Jahren – als ich selbst noch mehr politisch aktiv war – standen wir regelmäßig an Infoständen um mit den Bürgern direkt ins Gespräch zu kommen. Nicht nur zu Wahlzeiten, sondern auch im Alltag – wie wir immer stolz betonten. Und da kam es dann gern vor, dass aus Einzelgesprächen Anfragen, Initiativen oder Beschlussvorlagen wurden. Soweit gelebte Demokratie.
Oft wurde eine Argumentation eingeleitet mit der prägenden und insbesondere ostdeutsch sozialisierten Menschen sehr bekannten Formulierung „unsere Bürger wollen“ – gern auch in Abwandlungen wie „viele Bürger haben gesagt“ oder „die Bürger fordern“. Klingt erstmal volksnah, suggeriert auf jeden Fall eine breite gesellschaftliche Basis für die eigenen Vorschläge – ging aber oftmals nur auf nicht weiter validierte Einzelmeinungen zurück, die perfekt ins eigene Bild passten und deshalb wunderbar herhalten konnten – frei von jeder überprüfbaren Relevanz. Das, liebe Kinder, nennt mensch heute Framing.
Die moderne Form von „unsere Bürger“ hört mensch aktuell Tag für Tag: „die Sorgen der Menschen ernstnehmen“. Ursprünglich auf der Rechten etabliert, um eigene Haltungen zu legitimieren, wenn klar war, dass diese in der Regel ausgrenzend, autoritär oder sonst wie rückwärtsgewandt sind. Das Ziel: den allgemein akzeptierten Kanon gesellschaftlicher Diskussion verlassen und damit wieder einen Diskus nach rechts verschieben. Mittlerweile sickert diese Formulierung immer weiter in die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ bis hin zur politischen Linken und soll herhalten für einen vorgeblichen Kampf gegen rechts – der doch in der Regel nichts anderes als die klammheimliche Übernahme selbiger Positionen ist.
Sorgen oder Ängste sind schlechte Ratgeber für politisches Handeln. Statt auf irrationale, in der Regel faktenfreie Gefühlslagen aufzubauen wäre es Aufgabe verantwortlich handelnder Menschen, die Hintergründe zu verstehen und echte Lösungen zu entwickeln. Oder klar zu benennen, wenn diese „Sorgen“ einfach nur Ausdruck einer Haltung sind, die in Wahrheit zugrunde liegt: Vorurteile, Sexismus, Rassismus und Intoleranz.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist originäre Aufgabe politischer Institutionen im demokratischen System, Bedürfnisse der Bevölkerung zu verstehen und in handelnde Politik zu übersetzen. Es ist Aufgabe, Fehlstellen zu identifizieren und im Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse Lösungen umzusetzen. Nur, wer prüft eigentlich aktuell, welche Sorgen wie viele Menschen tatsächlich haben? Wer setzt reale Probleme ins Verhältnis, gewichtet diese nach tatsächlicher Relevanz und stellt sicher, was wichtig und was einfach nur der Krach Einzelner ist?
Genau das wäre auch Aufgabe der Akteure im demokratischen System, statt jeder Einzelmeldung in den Medien ungeprüft hinterherzulaufen. Es ist Aufgabe von Politik, Verwaltungen und Medien gleichermaßen, aufzuklären, Zusammenhänge aufzuzeigen, zu vermitteln – statt zu skandalisieren und einzelne Vorfälle zum Vorteil der eigenen Agenda auszuschlachten!
Wer also nimmt die tatsächlichen Sorgen der Menschen ernst? Oder zählen immer nur Aluhuttragende, Deutschlandfahnen-schwenkende Altgestrige, die ihre Meinungen ausschließlich auf Informationen von fragwürdigen Webseiten basieren?
Beispiele für mögliche Themen, die aktuell viel zu wenig diskutiert werden? Ich hätte da ne Liste, ohne Rangordnung:
- Die Sorgen der vielen Tausend Menschen, die noch immer täglich und ehrenamtlich Flüchtlingen bei der Integration helfen – ohne dass Medien davon berichten
- Die Sorgen der Menschen, die trotz Vollzeitjob ihre Wohnung nicht bezahlen können – weil Immobilien weiterhin Spekulationsobjekte sind
- Die Sorgen der Menschen, die eine europäische Einigung als Garant für Frieden und solidarischen Ausgleich sehen und beobachten müssen, wie gerade die Grundfesten der Union in Frage gestellt werden
- Die Sorgen der Schutzsuchenden, deren Unterkünfte fast täglich angegriffen werden – ohne dass Medien davon berichten
- Die Sorgen der Fahrradfahrer, die auf Deutschlands Straßen jeden Tag Gefahr laufen, von LKWs oder Autos umgebracht zu werden
- Die Sorgen der Menschen, deren Not so groß ist, dass sie das eigene Leben trotzdem auf bekannt lebensgefährlichen Routen nach Europa gefährden – weil es weiterhin keine legalen Fluchtoptionen gibt
- Die Sorgen der Menschen, die aufgrund von Auto-, LKW-, Schiffs-, Flugzeug- & Kraftwerksabgasen krank werden – weil selbst die ambitionslosen Ziele der CO2-Reduktion wieder kassiert wurden und sinnfreie Arbeitsplätze immer noch mehr zählen als Gesundheit und eine intakte Umwelt
- Die Sorgen der Menschen, die weltweit in Kriegs- und Krisengebieten leben, jeden Tag Tod und Folter fürchten müssen und keine Möglichkeit zur Flucht haben – während deutsche Waffenhersteller an den Krisen mitverdienen
- Die Sorgen queerer junger Menschen, die ihr Coming Out aus Angst vor Mobbing und Angriffen lieber auf „irgendwann später“ verschieben
- Die Sorgen der Menschen auf Inseln wie Kiribati, deren Heimat aufgrund des steigenden Meeresspiegels demnächst komplett unter Wasser steht
- Die Sorgen der Menschen in der Nähe veralteter AKWs wie Tihange oder Fesselsheim – die trotz regelmäßiger Störfälle immer weiter betrieben werden
- Die Sorgen afrikanischer Fischer, denen europäische Großfangflotten die Lebensgrundlage entziehen – gestützt mit Subventionen der EU und einzelner europäischer Nationalstaaten
- Die Sorgen, in dritter oder vierten Generation in Dtl. geborener Menschen, die trotzdem mit dem Label „Migrationshintergrund“ versehen werden – und in Konsequenz schlechtere Chancen auf gute Bildung und gute Arbeit haben
Liste kann gern individuell fortgeführt werden – Euch fallen da bestimmt auch noch andere Themen ein.
Ja, es gibt handelnde Personen in Politik, Verwaltung und wohl auch noch ein paar aufrechte Journalisten, die diesen Sisyphus-Kampf jeden Tag führen. Leider gehen diese Menschen in einer Welt, wo Medien einzig Geschäft sind, wo Politik scheinbar nur noch per Twitter oder in Talkshows mit immer den gleichen Gästen gemacht wird, gefühlt immer mehr unter – können sich in dem allgemeinen permanent maximal aufgeregten Geschnatter viel zu wenig durchsetzen.
Diese Ansätze möchte ich gern stärken und frage mich und die Leser, wie sinnvolle Unterstützung effektiv aussehen kann. Denn es braucht definitiv mehr Energie, diese Gesellschaft positiv voranzubringen und real existierende Herausforderungen unserer Zeit zu lösen statt irgendwelchen Phantomängsten hinterherzulaufen, mit deren Hilfe rechte und autoritäre Populisten in der ganzen Welt gerade versuchen, hart erkämpfte Errungenschaften der offenen Gesellschaft zurückzudrehen.
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