Da sind sie wieder, all die Kritiker europäischer Integration auf der Linken, die aktuelle Entwicklungen in Europa zum Anlass nehmen, das Projekt „Union“ als Ganzes zu diffamieren. Berechtigte Kritik an der Abschottungspolitik gegenüber Hilfesuchenden, an der fortschreitenden Austeritätspolitik, an Plänen zur weiteren Aufrüstung wird auf die europäischen Institutionen projiziert. Und dabei leider eines übersehen oder bewusst ignoriert: All das sind Entscheidungen, die zwischen den Regierungen der Nationalstaaten ausgehandelt werden – getrieben von regionalen Egoismen und dem Ziel, zu Hause wiedergewählt zu werden und gerade nicht davon, die Idee Europa als Ganzes voranzubringen. Im Gegenteil: Wenn der Egotrip bayrischer Provinzpolitiker, die Angst vor der Abwahl haben am Ende nicht nur deutsche Nationalpolitik vor sich hertreibt, sondern gesamteuropäisch den Diskurs klar nach rechts verschiebt, haben wir tatsächlich ein Problem: demokratische Prinzipien der Repräsentation werden komplett ausgehebelt und wieder durch das „Recht des Stärkeren“ oder hier wohl eher richtig die „Verbohrtheit alter weißer Männer“ ersetzt. Die Antwort auf diese regionalen Egoismen kann nur sein, die europäische Integration endlich zu Ende zu bringen, das direkte Eingriffsrecht einzelner Nationalstaaten zurückzufahren und diese in Konsequenz zu überwinden. Eine klare Aufgabenteilung zwischen Europäischer Union und gestärkten Regionen und Kommunen geht damit einher, wobei keine einzelne Region groß genug wäre, allein oder mit wenigen anderen die gesamte Union zu dominieren – und Bayern bekäme endlich den Platz, den es verdient: eine Provinz unter vielen.
Die Institutionen machen einen guten Job
Tatsächlich europäisch aufgestellte Institutionen wie das europäische Parlament und auch die Kommission machen – oft leider eher unbemerkt – überraschend gute Arbeit: Umweltstandards, Minderheitenrechte und Datenschutz sind nur drei Beispielfelder, in denen progressive Politik aktuell fast nur noch im EP betrieben wird. Gerade Deutschland handelt sich hier aktuell eine Mahnung nach der anderen ein, weil z.B. Regelungen gegen Überdüngung der Böden oder zur Luftreinhaltung in Städten einfach nicht ernstgenommen und damit immer wieder die Gesundheit der eigenen Bevölkerung zugunsten kurzfristiger Profitinteressen gefährdet wird. Und auch die kürzlich scharf geschaltete DSGVO ist nicht als Regelung schlecht, sondern wurde u.a. in Deutschland nicht sauber umgesetzt und vor allem überhaupt nicht kommuniziert. Das ist eine der zentralen Herausforderungen: Die meisten Mitgliedsländer suchen sich einfach nur noch aus, welche Vereinbarungen und Regelungen ihnen gerade passen und ignorieren den Rest im Zweifel einfach.
Eine anti-europäische Linke ist keine Linke!
Umso fataler finde ich es, dass in großen Teilen der politischen Linken weiterhin lieber das rechtspopulistische, nationalistische Lied vom „bösen Moloch Brüssel“ mitgesungen wird statt endlich aktiv und konstruktiv für weitere Verbesserungen und eine fortschreitende Integration der Union einzutreten. Defizite werden nur kritisiert und viel zu selten tatsächliche Vorschläge gemacht, wie die zutiefst progressiven Ziele der Union umgesetzt werden können: Solidarität zwischen und Annäherung der europäischen Völker, sozialer, wirtschaftlicher und auch ökologischer Fortschritt für alle, Sicherung des Friedens auf dem Kontinent und darüber hinaus und eine daraus abgeleitete positiv gestaltende Rolle in der Weltgemeinschaft. Denn am Ende kann die europäische Integration aus linker Perspektive natürlich nur ein (notwendiger) Zwischenschritt zur Schaffung einer echten Weltgemeinschaft sein.
Die europäische Einigung ist eine zutiefst progressive Idee
Schon im 17. Jahrhundert begeisterte die Idee der europäischen Einigung – wahlweise als Antwort auf die Bedrohung durch das Osmanische Reich oder generelle Idee zur Schaffung und Wahrung eines Friedens. Kants „Ewiger Friede“ und Victor Hugos Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ – die Idee ist so neu nicht und immer wieder zeigte sich leider, wie dringend nötig eine Umsetzung gewesen wäre. Nach dem 1. Weltkrieg entstand die Pan-Europa-Union um die richtigen Lehren zu ziehen, noch während des zweiten Weltkrieges verfassten u.a. italienische Antifaschisten das Manifest von Ventotene – geprägt von sozialistischen und kommunistischen Wirtschaftsvorstellungen gilt es bis heute als einer der wichtigsten frühen programmatischen Entwürfe einer europäischen Integration. Es wäre so schön, wenn die politische Linke endlich hier wieder anknüpfen und eine positive Erzählung entwickeln könnte. Hier wäre statt Konkurrenzgebahren gegenüber den (und teilweise ja auch innerhalb der) europa-positiven Grünen und Sozialdemokraten eine konstruktive Ergänzung von Links dringend notwendig um den gesamtgesellschaftlichen Diskurs wieder nach vorne zu bringen statt immer weiter in alte, überwundene Muster der Konfrontation und Durchsetzung egoistischer Interessen zu verfallen. Welche Partei(en) das im Einzelnen am Ende sein kann/können ist für mich aktuell eher zweitrangig. Im europäischen Kontext ist da derzeit viel in Bewegung und Klärungsprozesse in einzelnen Gruppierungen dringend überfällig und ich kann nur hoffen, dass diese Klärung bald passiert.
Zeit, für eine linke, pro-europäische Antwort!
Nun bin ich natürlich auch nicht naiv. Die Mehrheitsverhältnisse sind auch in Gesamteuropa aktuell eher nicht auf „progressiv“ gepolt. Die notwendigen Transformationen werden nicht einfach zu gestalten sein. Auf dem Weg wird es zu Entscheidungen und Kompromissen kommen, die uns im Detail nicht schmecken werden und auch nicht schmecken sollten. Insbesondere die Nationalregierungen werden ihre aktuelle Macht nicht freiwillig einfach abgeben – manche aktuell wohl eher gar nicht. Auf den „großen Wurf“ zu warten wird uns einen Millimeter vorwärtsbringen. Eher wird in der Zeit der bisher erreichte Fortschritt hintenrum weiter ausgehöhlt und am Ende vollständig in Frage gestellt. Umso wichtiger ist es, endlich positiven Druck von Links zu machen, Strategien zu entwickeln und Partner zu suchen, mit denen Themen umsetzbar sind. Eine echte Sozialunion inklusive Ausgleichtransfers zwischen den Regionen, eine bedarfs- und ressourcengerechte Wirtschaftspolitik, gleiche Gesundheitsstandards auf dem ganzen Kontinent, gleichberechtigte und selbstbestimmte demokratische Beteiligung aller und Unterbindung jeglicher Diskriminierung aufgrund von individuellen Identitätsmerkmalen – es gibt in der Tat noch so viel zu tun. Packen wir es an!