Mobilität ganzheitlich denken – dann klappt es auch mit der Verkehrswende!

Mobilität ist Daseinsfürsorge. Statt halbherzigem Wettbewerb sollte eine starke Bahn in öffentlicher Hand gesichert werden, mit der die dringend nötige Verkehrswende möglich wird.

Die Schlagzeilen waren Toni H. sicher: Grüner fordert die Zerschlagung der Deutschen Bahn. Ich gebe zu, ich war sehr irritiert und bin es noch immer.

Keine Frage, zurzeit läuft es nicht rund bei der Bahn – wer könnte davon besser berichten als ein leidgeprüfter BC100-Reisender, der in manchen Wochen berufsbedingt nicht nur einmal, sondern mehrfach kreuz und quer durchs Land fährt und dann am Wochenende dank Fernbeziehung auch noch hin und her pendelt. Verspätungen und Ausfälle sind Regel, nicht Ausnahme. Defekte Züge sind Standard und irgendwie ist immer irgendwas: Bistro kaputt, fehlendes Personal, fehlende Wagen, falsche Reihung Toiletten defekt, Reservierungsanzeige fehlerhaft – name it. Und dann sind da ja noch die fremdverschuldeten Störungen: Tiere & Personen im Gleis, Leute, die vor Züge springen, Autofahrer, die glauben „sie schaffen es noch“.

Ich liebe Bahnfahren
Und doch: Ich liebe das Bahnfahren – nötige sogar meine Projektkollegen regelmäßig dazu, die lieber Auto fahren würden und scheinbar jeden Stau nachts auf der Autobahn lieber in Kauf nehmen als 5 Minuten Anschlussstress beim Umstieg in Köln (oder FFM oder Hannover oder Mannheim oder…). Und ich stelle immer wieder fest, dass die meisten Vielfahrer – die mensch schnell erkennt – kleine Pannen in der Regel eher amüsiert zur Kenntnis nehmen. Mensch weiß, bei dringenden Terminen wird mit Puffer geplant. Mensch weiß, wenn es knapp wird, gibt es fast immer ne Option B – und oft genug war ich am Ende sogar früher am Ziel als geplant. Und ja, mensch weiß, wenn ich von A nach B will kostet das Geld – dann muss ich für die Dienstleistung Mobilität eben auch einen Preis zahlen. Und genau da fängt das Problem an: Wir haben – so scheint es – komplett verschobene Wahrnehmungen von fairen Preisen und die Bahn hat darunter extremst zu leiden.

Nicht die Bahn ist das Problem, sondern die aktuellen Rahmenbedingungen
Wenn das S-Bahn-Ticket zum Flughafen mehr kostet als der Flug nach Mallorca oder London, dann ist das ein Problem und muss endlich konsequent angegangen werden.
Wenn Fernbusunternehmen mit Dumpingpreisen unterwegs sind, die erst möglich werden, weil für die Nutzung der Infrastruktur keine Kosten in Rechnung gestellt werden und durch Sub-/Sub-Sub/Sub-Sub-Sub-Modelle Fahrer zu miesesten Arbeitsbedingungen unterwegs sind, dann ist das ein Problem und muss endlich konsequent angegangen werden.
Wenn weiterhin jedes Jahr der größte Batzen der Verkehrsstrukturinvestitionen in Straßen und Autobahnen und damit vor allem in den Individualverkehr geht und Bahn & ÖPNV sehen müssen „was übrigbleibt“, dann ist das ein Problem und muss endlich angegangen werden.
Und wenn die Bahn glaubt, mit permanenten Rabattschlachten neue Kunden zu gewinnen, dann schafft sie sich selbst noch ein riesiges Problem dazu: Angelockt werden typische Heuschrecken, die nicht gebunden werden können, sondern immer dahinziehen, wo es gerade am billigsten ist. Erzogen werden die Kunden, auf den Sonderpreis zu warten den es ja auf jeden Fall noch gibt, statt reale Preise zu zahlen. Genervt sind alle Kunden, weil am Ende volle Züge noch voller werden aber auch kein Geld für mehr Kapazität da ist, da mit den Sonderpreisen ja keine Marge zu machen ist. Und frustriert sind am Ende die Stammkunden, die das alles mit ihren „teuer gekauften“ Tickets finanzieren.

Wenn schon mit dem Ausland vergleichen, dann bitte richtig!
Gern wird ja immer auf andere Länder und deren Bahnen verwiesen: Schweiz, Japan, letztens las ich einen eher absurden Artikel über das angeblich so viel bessere System in Italien. Was dort immer gern vergessen wird zu erwähnen: Gerade die Schweiz und Japan investieren jedes Jahr deutlich mehr Geld in Infrastruktur und Züge. Und gleichzeitig kostet ein normales Ticket deutlich mehr als bei uns.

Schluss mit immer währenden Sparrunden und Privatisierungsdiskussionen
Die Deutsche Bahn hingegen wurde seit Scheinprivatisierung 1994 und spätestens seit der Planung des Börsengang 2006 vor allem auf Geldverdienen getrimmt. Rendite war das oberste Ziel, alles was dem im Wege stand wurde wegrationalisiert – mit den heute bekannten Folgen: Zugmaterial fällt auseinander, Notfallreserven gibt es so gut wie keine mehr, Infrastruktur ist in schlechtem Zustand und jede Krankheitswelle bei Lokführern, Stellwerkern oder Wartungsmonteuren löst sofort große Krisen aus. Und das in einem Umfeld, wo der Wettbewerb mit anderen Mobilitätsanbietern eben nicht gleich und fair, sondern komplett verzerrt ist (s.o.). Das wurde von links und grün immer und zurecht kritisiert – geändert hat sich daran aber auch zu rot-grünen Regierungszeiten wenig.
Die Einordnung in diesen Gesamtkontext einer notwendigen umfassenden Verkehrswende finde ich notwendig und dringend geboten – und kann nicht sehen, wie singuläre Konzepte für das „Problem Bahn“ funktionieren sollen, wenn die Rahmenbedingungen nicht endlich in Ordnung gebracht werden.
Mit einem Fokus auf das Kerngeschäft (umweltfreundliche Mobilität und Transport in Deutschland und darüber hinaus gehe ich völlig mit – frühere Investitionen in Großbritannien (Arriva) und nicht-schienenbasierte Logistik (Schenker) sollten beendet und das gewonnene Kapital in den dringenden Ausbau der Infrastruktur gesteckt werden. Die Umwandlung in eine gemeinnützige Bundesgesellschaft und damit Schluss mit dem Profitzwang als oberstem Unternehmensziel ist überfällig – Mobilität ist Grundrecht und die Dienstleistung aus meiner Sicht Teil der Daseinsversorge – lokal, regional und überregional gleichermaßen.

Wettbewerb und Daseinsfürsorge gehen nicht zusammen
Statt aber die Bahn als Ganzes zu stärken und auf den richtigen Weg zu bringen wird eine Aufteilung in Netz & Infrastruktur sowie Betrieb vorgeschlagen. Für diese alte Forderung der (Neo)-Liberalen und Wirtschaftsfreunde bringt Toni Hofreiter selbst das Hauptargument an: Damit der Wettbewerb gestärkt werden kann. Warum wird diese – aus meiner Sicht – falsche Strategie weiterverfolgt, obwohl die Erfahrungen der letzten Jahre seit „Liberalisierung“ vor allem eines gezeigt haben: Die Privaten kriegen es auch nicht besser hin. Ständige Mängel, notwendige Neuvergaben und alle kämpfen mit den gleichen Herausforderungen: Personalmangel, veraltete Infrastruktur, Hersteller, die mit dem Bau von Zügen nicht hinterherkommen. Deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter – von den gleichen Gewerkschaften akzeptiert, die bei der Deutschen Bahn gar nicht hoch genug pokern können… Nur so kann erreicht werden, worum es bei den Ausschreibungen einzig geht: mit dem billigsten Angebot zu gewinnen. Was dann wie zu leisten ist kann mensch ja danach schauen… Beispiele? Gibt es am Ende des Artikels in bunter Auswahl.
Keine Frage: Große Organisationen kommen mit Effizienzverlusten. Wer jedoch glaubt, Wettbewerb verhindert diese hat noch nie gesehen, wie viel Zeit, Energie und Geld in Ausschreibungen auf allen Seiten einzig dafür verschwendet wird, Angebote einzuholen, abzugeben, zu bewerten, zu überzeugen und am Ende zu gewinnen. Statt ganze Abteilungen in privaten Unternehmen damit zu beschäftigen, gegeneinander anzutreten könnte mensch diese Ressourcen auch wunderbar nutzen um Themen wie Kundenorientierung voranzutreiben.

Die Bahn stärken – dann klappt es auch mit der Verkehrswende!
Was es braucht ist ein integriertes Mobilitätsangebot mit der Deutschen Bahn als Anbieter im Nah-, Regional und Fernverkehr als Kernbestandteil um den herum sich ergänzende Angebote abbilden lassen als spezifische, moderne, umweltfreundliche und ressourcensparende Mobilitätsangebote auf der letzten Meile in Städten und auf dem platten Land gleichermaßen. Die Sicherheit, in angemessener Zeit und mit angemessenem Aufwand überall hinzukommen, wo ich als Bürger hin möchte oder muss – mit einem Ticket und zum angemessenen Preis. Mehr statt weniger Bahnhöfe in der Fläche, mehr statt weniger Verbindungen in allen Regionen, gute Angebote nicht nur auf den profitablen „Rennstrecken“. Das wünsche ich mir als grünes Verkehrsangebot und dafür – davon bin ich fest überzeugt – braucht es eine große, starke, leistungsfähige Bahn, die den Wettbewerb mit Flugzeug, Bussen und Individualverkehr nachhaltig aufnehmen kann und sich nicht im Klein-Klein mit Privatbahnen und Möchtegern-Eisenbahnern verzettelt.
All das findet, wer sich die Mühe macht und dort nachliest schon im Sommer in einer Erklärung von Toni. Die Verkürzung auf eine Zerschlagung der Deutschen Bahn und den Ansatz der Privatisierung finde ich problematisch und hoffe sehr, dass diese Diskussion nicht von den wichtigen übergreifenden Fragen der Verkehrswende ablenkt.

Foto: https://pixabay.com/

Autor: tomatenfisch

If I can´t dance to it, it´s not my revolution. emotionale Dampfwalze eitle Rampensau immerwaehrender Besserwisser und trotzdem gibt es Leute die mich moegen. Verrückt. :-) Fav's: Stockholm; Punk; IndieRock; Dancing; Parties; Running; Vodka; NewEngland; RedSox; Tea; JellyBeans; Books; Movies; RadioEins and about thousand other things that make life worth living every single day...

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